Malerei des Alltags und seiner Überwindung

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Malerei des Alltags und seiner Überwindung
Von Marino Buscaglia

Die Grossformate von Philippe Fretz stehen an der Verbindungsstelle zweier Welten, wie wenn sie von zwei
gegensätzlichen Grundgedanken der Bildwiedergabe getragen würden: Die konkrete Rationalität der Figuration und
ihre Überschreitung in einem eigentlich spirituellen Projekt. Ein Paradox, weil jedes Werk ohne Vorbehalt, auf den
ersten Blick, als Einheit dasteht. Von harmonischen Pastelfarben in benachbarten und dennoch kontrastreichen Tönen,
über konstruktive Strenge, über festgeformte Strukturen und eine weitgespannte Raumtiefe mit streng berechneter
Perspektive, bis zur bleichen Ferne des verblassenden Dunstes, welcher aber nicht die Dichte hat, den Horizont zu
verhüllen, das ergibt der erste Blick auf ein Gebilde, das monoton scheinen könnte. In der Folge muss man Auge und
Geist Zeit geben, um die filigranen Subtilitäten zu erkennen.

Für Fretz ist die formale Beherrschung von Zeichnung und Farbe nur das Werkzeug für eine Folge von Meditationen
über ein einziges Thema mit zwei innerlich verbundenen Gesichtern: Die Fabrik Kugler, Arbeitsort für 161
Künstlerinnen und Künstler, aber auch Ort des individuellen Schaffens, der Besinnung auf sich selber. Über das hinaus,
ein bildnerisches Eintreten auf die Logik der Darstellung, der figurativen Strenge und ihrer Überwindung, die
Perspektive, das Schicksal der Fabrik, als Sinnbild für politischen Widerstand. Malerei des Ateliers, der schöpferischen
Intimität und ihrer ungewissen Zukunft.

Um dieses Programm zu erfüllen, vereint der Künstler ganze Abschnitte der Kunstgeschichte, er durchschreitet
Jahrhunderte und wir werden sehen, dass seine Werke sich auf die Übergänge stützen, auf die unerwarteten
Verbindungen(figural, perspektivisch, symbolisch, sinnhaft). Als erste Warnung ist zu sagen, dass diese summende Wabe von Künstlerinnen und Künstlern gemalt ist wie ein grosses, stilles Pastelgemälde, welches erstarrt ist, als ob die Zeit angehalten wäre, wie in den lichten Räumen des Quattrocento und sogar derer von Giotto, in der Strenge der Perspektive, ebenso in der Unbeweglichkeit der Figuren.

Raffinierte Zweideutigkeit dieser Kompositionen mit vielfältigen Zwecken ! Denn die Vertreterinnen und Vertreter der
Fabrik Kugler widmen sich gleichzeitig einem Spiel mit Symbolen und gemeinsamen Erinnerungen, welche aus diesem
Ort der Kreativität ein Experimentierfeld für das weite Land der Bildung des Künstlers machen.
Diese stillen Meditatioen, deren harmonisches Gleichgewicht nach dem Mass eines Gottes kalkuliert scheinen,
beziehungsweise vielmehr ausgemessen nach einer Realität, welche weder ihr Zentrum noch ihre Bedeutung in einer
wohlbedachten Unendlichkeit verloren hätte, diese Meditationen sind durchdrungen von fremdartigen Objekten,
Taktgebern von Überschreitungen, der Zeit, räumlicher Logik und hauptsächlich der Abbildung als Bild.

Diese wohlgefügten Formen, diese scheinbare Einfalt können sehr wohl ein Kräftespiel verbergen, welches die
Vorgehenseise selber enthült: tiefgrüner Wald, steife Perspektiven nach Richtschnur, hartnäckiger Realismus gewisser
Details. In der kühlen konstrukiven Komplexität, in Formen und Bedeutungen, im Bekannten und im Unerwarteten, im Vernünftigen und im Irrationalen wird eine fremdartige Gedankenwelt organisiert, welche sich der figuralen
Wiedergabe der Landschaft bedient. Landschaften, in denen die Einheit der Widergabe zerteilt, gar zerschlagen wird
durch die Einzelheiten. Aber gerade hier liegt der überraschende Charme dieser ebenso realistischen wie
metaphysischen Malerei, deren zerstückelte Einheit in der Harmonie des Gesamten aufersteht, getragen durch die
Anordnung der Details und ein subtiles Farbspiel. Fretz ist ein virtuoser Kolorist, ein Liebhaber von Pasteltönen
(Ausdruck der ethischen Zurückhaltung), aber auch ein Künstler, der imstand ist, gebrochene Farben zu verbinden und
das Ganze durch einige strahlend blaue, glühend rote oder intensiv grüne Farbschichten vibrieren zu lassen (als
Zeichen der spirituellen Explosion).

Die gleichen Kontraste finden sich in der übergreifenden Bewirtschaftung der rechteckigen Leinwände, in welcher
häufig verschiedene Ebenen ineinander übergehen, in einer frontalen Abfolge, unterbrochen von einigen subtileren
Assoziationen, bei denen gewagte diagonale Einblicke eine strukturierende Wirkung entfalten und sich in abweichende
Perspektiven entwickeln, die dennoch absolut nötig sind. Das zentrale Objekt dieser «Veduten» bleibt die Fabrik
Kugler, Residenz einer Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern, solid eingepackt zwischen dem Strom und dem Fluss,
die sich etwas weiter unten vereinigen; die Rhone, deren alpine Sturmkraft sich in einen bedächtigen Abstieg zum
Meer hin verwandelt hat und die ungestüme Arve, welche die formende Kraft der Felsen behält und die
Unvorhersehbarkeit der Schluchten. Das Dreieck ihres des Zusammenflusses tritt unaufhörlich wieder auf, vor allem
dann, wenn der ruhige Strom der Wasserläufe die Alltagsszenen im Kunstzentrum begleitet, oft banal, aber immer
poetisch.

Die Architektur der Fabrik Kugler wird in diversen Perspektiven wiedergegeben, welche die Ausrichtung der Fassaden
unterstreichen und damit deren Monumentalität widergeben. Diese Architektur ist der Angel- und Drehpunkt der
wichtigsten Bedeutungen, auf welche alle Geometrien der Bilder konvergieren. Die Wahl einer deskriptiven Form der
Wiedergabe bleibt indessen nicht rein rational, weil das Zentrum auch der Ort der Rekonstitution des Atmosphärischen
und vieler erlebter oder erzählter Ereignisse ist: Bad und Schifffahrt in und auf der Rhone, Innenleben der
Künstlerateliers. Ein ganze kleine Welt, die für Genf steht oder für Carouge, oder für viel mehr. Zu guter Letzt wird
auch die Natur in der Umgebung des Forsts «de la Bâtie» und der Stromschnellen von «Saint Jean» einbezogen in den
Stimmungen der sich abfolgenden Jahreszeiten. Ungeachtet dieser lokalen Bezüge gibt es nichts, das sich nicht auf
Ferne beziehen würde, bis ins Unendliche. Insofern das Zentrum dargestellt ist durch die Fabrik Kugler, handeltes sichcum ein Zentrum, welches an allen Brüchen partizipiert, an den Brüchen der Form, der Zeit, der Bedeutung, des
Raums. Nichts bleibt in diesen Ansichten an der Fabrik Kugler hängen, in welcher jedes Element seinen zugehörigen
Platz in der Harmonie eines weiträumigen Ganzen gefunden hat. Es handelt sich durchaus, wie bei Neo Rauch, um die
paradoxe Einheit einer zerrissenen Welt.

Der Autor stellt subtilere und spirituellere Überlegungen an, als es die Anektoten vermuten lassen, die man auf den
ersten Blick wahrnimmt. So sind die aus der Architektur der Fabrik herausgehobenen Projektionen zahlreicher
Künstleratleiers edle und strenge Ehrbezeugungen an Künstlerinnen und Künstler, welche der Maler schätzt. Die
Bergzüge im Hintergrund, unbestimmt, gebändigte Zeugen eines weit entfernten Sturms, sind Wellen, die von hier
nach dem Unendlichen führen, welches unerreichbar ist. Die Tiere, der Hund, der Affe, Tarotsymbole, tragische,
manchmal auch komische Vorkommnisse des Lebens, die lebensfrohen Wandbehänge mit Gartenmotiven,
Reminiszenzen einer erotischen Miniatur indischer Herkunft, welche alle das Familienleben umgeben, auch eine
Kinderstadt aus Legosteinen, das alles zeigt uns eine neue Art pikturaler Spiritualität.

Die Malerei einer Anlegestelle. Wie eine Einschiffung auf den Kais des Alltags in der Kugler, dem ausgezeichneten Ort
der Kreativität, in Richtung auf ein Feuerwerk von Einzelheiten und pittoresken Erinnerungen, auf einem
widersprüchlichen Kurs, gezeichnet durch zeitliche, geographische und mentale Brüche, beherrscht von einem
unendlichen Horizont.

Diese strenge, figurative, konkrete und gleichzeitig einladende Malerei zögert nicht, im gleichen Zug surrealistische
Funken zu zünden. Der Hund und der Affe aus dem Tarot, die Tänzerin von Ca’ d’Oro mit Bildern von Mantegna oder
flämischer Meister sind ein unerwartetes Augenzwinkern, Überschreitungen, welche jede beengte Theorie der Welt
verbieten – wäre es die beste – und die unaufhörliche Erneuerung der Bedeutungen betonen. Bestimmt ist es eine
Lektion der Augenöffnung auf ein recht umschriebenes Thema, welches aber durch die Serie der Variationen weit
übertroffen wird. Bestätigung, dass die Einheit der Welt aus der Vielfalt gemacht ist. Eine Vielfalt, die sich organisiert,
um die eigene Zerstückelung aufzuhalten.

Alles verbindet sich jetzt, in einer Bewegung welche anfangs starr schien, und und jede Verschiebung, jeder Bruch
führt uns nun zu dieser Überwindung des Konkreten, welche ins Unendliche führt. Alles findet hier und jetzt statt,
projiziert sich aber in weit entfernte Gebiete. Ja, so weit entfernt ! Gegenüber den aktuellen Verantwortlichkeiten,
zurückliegenden und zukünftigen, suggeriert nun alles die Zertrümmerung des Rahmens. Keine Monotonie mehr,
vielmehr der Taumel eines jederzeit unbegreiflichen Alltags, als ob, wie der Philosoph sagt, «das Unendliche seinen
Blick auf uns richtete».

Überholte Logik, unwahrscheinliche Perspektiven, unzulässige Raumverschränkungen, ausgestülpte Innenansichten !
Man sieht sich überrollt von der eigenständigen Logik einer persönlichen Anschauung, welche in der Erinnerung
erlebter Erfahrungen verankert ist: Glück der frühen Jahre, Familienferien mit den Kindern, geliebte Landschaft,
welche aber verortet ist in «Ich und die anderen», Garant des täglichen Zusammenseins des grossen Ateliers, welches
die Fabrik Kugler darstellt, welche sich genau, geographisch gesprochen, an der Verbindungsstelle zweier Flüsse
befindet, der Rhone und der Arve, deren Wassertiefen, hell und in trägem Fluss für den einen, trüb und tumultös für
den anderen, sich zu einer künftig gemeinsamen Reise vereinigen, von irgendwoher und bis ins Meer.
In der Tat muss man die Modalitäten der in ihrem Wesen spirituellen Beziehung zwischen dem Hier und dem Dort
verstehen, um jenseits der gewöhnlichen Inspiration die Kunst von Fretz zu verstehen, unscheinbar zu bleiben und
dennoch überzeugend.

Im Zentrum dieser Arbeit steht eine unleugbaren Beherrschung der Farbgebung und der Zeichnung, aber auch von
deren Übertretung. Eine stille und dennoch sehr präsente Transgression, die sich durch Brüche und durch Passagen
manifestiert, welche die Normalität der Zeit leugnen, ebenso des Raums, der Perspektive, und der Bewegung.
Eine Interpretation, welche vielleicht diesen von weither kommenden roten Reiter umfasst, welcher auf uns zustürmt,
über die blauen Berge am Horizont, und dessen Pferd mit einem Sprung, einem einzigen, das ist gewiss, den
gesamten Raum des Bildes verbindet. Er ladet uns ein, Pilger im Land der Malerei, sich ihm anzuschliessen in der
Eroberung dessen, was sich uns stets entzieht.

Jetzt ist es Zeit, diesen Text zu verlassen, um zu den Werken zurückzukehren, um der Anschauung ihre Zeit zu geben,
um sich von der Leichtigkeit der Farben und von der Stille erfassen zu lassen, um sich dieser gescheiten
Meditationsmalerei auszusetzen, um deren Geheimnisse zu durchqueren, deren Beziehungen zu verstehen. Kurz, uns
dieses unverrückbaren Gewebes der Bedeutungen zu vergewissern, um sich schlussendlich in einer Weltsicht zu
verlieren, die der Teilnahmslosigkeit entgegensteht: jener der Unendlichkeit, die sich in der Reglosigkeit jeden
Augenblicks wiederfindet.

Marino Buscaglia, Juni 2010
Übersetzung aus dem Französischen in die deutsche Sprache durch Beat Selz